Friday, June 5, 2009

Kreisel






Atatürk-Denkmal im Bahnhof Istanbul Sirkeci
mit der Aufschrift „ Ne mutlu Türküm diyene“ (Glücklich derjenige, der sich Türke nennt)
zusammen mit dem Kreisel - Kunstobjekt
Foto: D.H.G.






Der Kreisel

Ein Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielten. Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, so lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph, um ihn zu fangen. Dass die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel auch eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihm unökonomisch. War die kleinste Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel. Und immer wenn die Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hatte er Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewissheit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.



Franz Kafka




………………Ein Kinderspiel mit dem Kreisel, Faszination, die vom drehenden Kreisel ausgeht.
„Denn, um es endlich auf einmal heraus zusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."
(Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief)
Der Philosoph möchte den in sich drehenden Kinderkreisel erforschen, er hält ihn fest, denn er glaubt, individuelle Erkenntnis habe nicht beim Allgemeinen, sondern beim Besonderen anzusetzen. Der Kreisel wird hier zum Inbegriff der intellektuellen Suche, zugleich aber zum Bild für die Zurückweisung, die der Suchende erfährt.
Der Suchende lernt, dass der Gegenstand, den er erfasst, nicht mit dem identisch ist, den er zuvor erforschen wollte. Die Faszination, die vom drehenden Kreisel ausging, verliert sich, sobald er als Holzstück in der Hand liegt.
„Er läuft den Tatsachen nach wie ein Anfänger im Schlittschuhfahren, der überdies irgendwo übt, wo es verboten ist.“
Kafka
Bewegung und Festhalten sind unvereinbar.
Die Veränderung der Ausgangssituation ("Erkenntnis suchen") wird zwar angestrebt, aber niemals erreicht. Der Kreisel gehört Kindern, deren Spiel er unterbrochen und die er mühelos ignoriert hatte. Das Experiment ist gescheitert, geistige Enttäuschung folgt.
Am Ende wird der Mann selbst zum Kreisel. Wer oder was immer den Gejagten treibt, ist kein Könner, denn der Kreisel-Mensch taumelt. Die Peitsche, die einen Kreisel in Gang hält, könnte auch als Folterinstrument gesehen werden……………
K.P.



Kleine Fabel
"Ach", sagte die Maus, "Die Welt wird immer enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe."
"Du musst nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie.
Franz Kafka










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