Sunday, November 11, 2007

Kindheitsgeschichten 1

Foto: D.H.G. Strand in Nordkalifornien



Das Blau

So jung war ich, dass ich gar nicht mehr weiß, wie alt genau ich war. Ich ging schon in die Schule.

In diesem Jahr wollten meine Eltern mit mir zum ersten Mal eine weite Reise machen, nach Holland. Am Beginn der Sommerferien würden wir also an das Meer fahren! Ich konnte es mir nicht vorstellen, das Meer.

Einen See hatte ich schon mal gesehen, bei Essen. Es hieß, er sei groß, aber rundherum waren
tausend Menschen, Häuser, Wohnwägen, Autos. Bunt, aber zu bunt und laut war alles.
Das Meer sollte größer sein, viel größer. Und so weit das Auge reicht, nur Meer. Und es sollte ganz und gar blau sein. Am Ufer wäre so viel Platz, dass man kilometerlang entlang laufen könne - ohne Unterbrechung.

Ich war die hektische Großstadt gewöhnt, Lärm und Schmutz. Jeden Tag ging ich durch Straßen, die von Autos und Menschen nur so brodelten. Regengrau allzu häufig die Tage, selbst im Winter nur schmutziger Schnee. Spielen auf der Straße. Straßenstaub und Autohupen. Selbst bei Sonnenschein wurde der Himmel nur leicht bläulich wie von einem grauen Schleier verhangen.

Die Ruhe meiner Kleinkinderjahre auf dem Lande, die Weiten des Weserberglandes, daran
erinnerte ich mich immer wieder. Wie ich die endlosen Spaziergänge mit Opa durch die Felder
geliebt habe. Jede Blume am Wegesrand habe ich angesehen und mit ihr gesprochen. Dort gab es strahlende Farben, grüne Wiesen, weiße Wolken auf blauem Himmel. Den Geruch des
gemähten Grases und die lebendige Stille der Natur.

Wie sollte ich mir nun das Meer vorstellen?

Erster Ferientag und wir fuhren schon in der Nacht los. Unser VW-Käfer sauste aus der
Stadtlandschaft heraus. Papa und Mama vorn - und ich auf der Rückbank . Ich schlief ein.
Irgendwann machte ich die Augen auf. Draußen viele Menschen, unser Auto hatte angehalten.
„Wir machen hier eine Pause. Wir warten auf die Fähre“, so Mama.
Waren wir schon am Meer? Wir stiegen alle aus. Das alles erinnerte mich an den bunten und
lärmenden See. Autos in Schlangen, Lärm, Hupen, Benzingestank, fliegende Händler und
Pommesbuden.Mama tröstete mich. „Das ist nur der Fährhafen. Hier geht es auf unsere Insel und zwar mit dem Schiff.“ „Aber wo ist das Meer?“ „Das ist schon das Meer, aber nur ein enger Meeresarm, das offene Meer kannst du hier noch nicht sehen!“

Es war noch grauer Morgen, die Sonne erschien langsam am Himmel. Nur schiefergraues Wasser, das Schiff kam und nahm unser Auto mit zum anderen Ufer, zur Insel.
Dort ging es vorbei an Wiesen und Feldern, durch hübsche Dörfer, immer weiter, bis wir
endlich unser Ferienhaus erreic hten. Wunderschön war es hier, so hell und freundlich mit schönen klaren Farben. Es erinnerte mich ein wenig an mein geliebtes Weserbergland. Ein seidenblauer Himmel wölbte sich über uns.
Aber : Weit und breit kein Meer!
Jetzt wurde ich doch etwas ungeduldig. „Da ist es, das Meer. Hinter den Dünen!“ Papa zeigte auf eine Reihe von Sandhügeln, die vonweitem herüberschauten. Auf ihnen schwankten große Grasbüschel im leichten Wind. Nun war ich nicht mehr zu bremsen. Ich rannte los. Die Sonne schien schon kräftig.
Irgendwann wurde der Boden sandig und das Laufen fiel immer schwerer. Mit jedem Schritt nach oben sank ich wieder ein Stück zurück. Ich warf meine Schuhe weg. Gleich war ich oben und würde das große weite blaue Meer sehen. Jetzt !
Enttäuscht sah ich hinter einem weiten Dünental nur eine weitere Düne aufsteigen, kein Meer!
Ich rannte schwitzend weiter, beim zweiten Anlauf das gleiche. Die dritte Düne kam mir noch höher vor als die vorherigen. Meine Beinmuskeln schmerzten. Ich kämpfte mich auf einem immer enger werdenden, tief in die Düne eingekerbten Sandweg durch die harten Gräser weiter hoch und plötzlich kam es: Das Blau!
Zwischen den hohen Büschen tauchte ein Dreieck in einem überirdischen Blau auf.
Das musste das Meer sein. Ich blieb andächtig stehen.
Langsam, ein Schritt nach dem anderen, das Dreieck wuchs immer mehr, meine Augen gingen aufin diesem blauen Zauber der endlosen Weite des Ozeans.
Ich schaute mich um. Schäumende Wellen, die in langen Bögen auf den Strand eilten. Der Strand,der hell und riesig in der Sonne lag. Kein Ende war zu sehen, nicht vom Meer und nicht vom Strand. Wenige Menschen liefen in den Wellen umher oder lagerten auf dem Sand.
Jauchzend lief ich den Dünenhang herunter, kämpfte mich durch den weichen Sand und stand am Wellensaum. Ich fühlte das Meereswasser, doch die Welle lief schon wieder weg, ein merkwürdiges Gefühl , wie wenn ich in den Sand hineingezogen würde, da kam die nächste und umspülte meine Füße. Ich krallte meine Zehen in den Sand, um Halt zu finden. Ich genoss jede Sekunde, bis ich wieder den Sog verspürte und richtig mit den Füßen im nassen Sand versank.
Ich ließ mich einfach zurückfallen, sah den weiten, weiten herrlich blauen Himmel über mir, fühlte den warmen Sand unter meinem Rücken, die nächste Welle , die meine Beine erreichte und war nur noch glücklich.
Langsam richtete ich mich auf, wollte am liebsten diese großartige Natur, dieses blaue Meer
umarmen. In diesem Moment schien es mir so als ob ich schon immer Teil dieses wellenhaften
Kommens und Gehens war. Das Blau hatte mich in meinem Innersten berührt.
Da riefen meine Eltern. Sie standen lachend auf dem Dünenkamm und winkten. Ich ging langsam zurück und schaute das Meer an, als wenn ich mich von einem guten Freund verabschieden würde.
Ich komme gleich wieder!
Nachmittags zogen wir wieder an den Strand. Neben einem Windschutz lagerten wir, Mama hielt die Stellung, Papa und ich rannten wieder auf die Wellen zu.
Stundenlang wanderte ich durch die flach anbrandenden Wellen, hüpfte vor und zurück, konnte gar nicht genug auf den Horizont schauen und die endlose blaue Weite bewundern.
Manchmal schienen bei starkem Wind die weißen Schaumkronen der großen Wellen vom Blau des Meeres kaum noch etwas übrig zu lassen. Das Wasser schimmerte eher grün, fast ein bisschen gefährlich. Dann ging Papa auch nicht schwimmen und Mama zog mich ängstlich von den Wellen fort. Doch das dauerte nie lang, schnell erkannte ich wieder mein Meer, mein blaues, weites, wunderschönes und sanftes Meer.
Mein Vater schwamm bei ruhiger See immer weit hinaus und winkte mir immer, bevor er wieder zurückkehrte, zu. Immer!
Einmal sah ich ihn plötzlich nicht mehr. Das Blau war plötzlich kalt und leer. Ich stand eine Weile und dachte: „Gleich taucht er auf!“ Doch nichts war zu sehen. Ich schrie: „Papa!“ und nochmals „Papa!“ .
Leute sammelten sich um mich, schauten angestrengt auf das Meer. Ein Mann: „ Die Ebbe wird ihn aufs offene Meer hinausziehen. Da gibt es keine Rettung!“
In meinem Kopf tobte die Angst um meinen Vater und die Wut auf das Meer. Nochmals schrie ich „Papa!“ und weinte fürchterlich. „Hier bin ich doch, meine Kleine!“ Papa stand da, ganz wie immer,ich umklammerte ihn.“Wo warst du denn?“ „Heute bin ich früher zurück an den Strand, du hast mich vor lauter Muschelsuchen gar nicht bemerkt. Es ist alles gut!“
Das Meer hätte ihn verschlucken können, das blaue Meer, ihn, meinen Vater. Das schöne
wunderbare , aber auch ungeheure Meer .
Kann ich es noch lieben?
Das fragte ich mich lange. Irgendwann lernte ich, dass das Blau allein doch nur eine Farbe und nur ein Teil des starken und auch gefährlichen Meeres ist. Ein Teil, der mich bis heute fasziniert, ohne dass die anderen Seiten vergessen sind.
Wir sind wirklich gute Freunde geworden.





Eine Geschichte von D.H.G.





Foto: D.H.G. Pazifikwellen






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